Zu Weihnachten hat mir meine Tochter letztes Jahr das Buch geschenkt: „Wir Internetkinder“ von Julia Peglow. Mittlerweile ist es Ende November, schnell mal mit dem Lesen anfangen, bevor ich eine hochgezogene Augenbraue meiner Ältesten in vier Wochen riskiere (Nein, Scherz, würde sie gar nicht machen, so ist sie nicht).

Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden, meinte der Philosoph Sören Kierkegaard und das nimmt sich Julia Peglow für ihr Buch vor: Was haben Wir Internetkinder eigentlich durch die Digitalisierung gewonnen und was genau verloren? Nahezu schmerzhaft beschreibt sie ihren Arbeitsalltag, der durch Mails und Termine (bzw. Versuche, gemeinsame Termine zu finden) dominiert, man möchte fast sagen, terrorisiert wird. Man beobachtet eine Designerin, wie sie sich langsam häutet und sich in kreisendem Denken tiefer und tiefer in das Unbehagen unseres digitalen Arbeitens versenkt. I can feel you, möchte ich der Autorin am liebsten zurufen, denn diese Flüge zu internationalen Business-Meetings, am Gate, mit dem Notebook auf dem Schoß, um noch die letzten Mails zu beantworten – ich bin sie auch zur Genüge geflogen. Peglow analysiert Stück für Stück, wie wir Raum und Zeit im digitalen Zeitalter noch so nutzen wie im vor-digitalen und bemerkt, dass uns dadurch die inhaltliche Qualität, der ursprüngliche Kerngedanke verloren gehen: „Das Erschreckendste ist die innere Leere der digitalen Arbeitswelt. Denn wenn man in die Strukturen, Prozesse und Projekte hineinschaut, in die Mails, Termine, Meetings und Use Cases – dann tritt der Inhalt, die Sache, der ursprüngliche Grund für den Austausch, auf merkwürdige Weise in den Hintergrund. Die Menschen vergessen, um was eigentlich geht. Es erinnert mich an das Nichts, das Michael Ende in seinem Buch ‚Die unendliche Geschichte‘ beschreibt und das ich mir als Kind immer vorzustellen versuchte: Erst beginnen die Dinge durchsichtig zu werden, verblassen, bis an ihre Stelle einfach nur das große, weiße Nichts tritt. Erst jetzt glaube ich zu verstehen, was er damit meinte: Das, was in mir, aber auch in der Arbeitswelt um mich herum vonstatten geht, fühlt sich ganz ähnlich an.“ Ein nachdenkliches, engagiertes Buch, das das eigene Koordinatensystem kräftig durchrüttelt. Und was mir auch gut gefällt: die Gestaltung des Buches, durchgehend in drei Sonderfarben auf Recyclingpapier gedruckt, Flexcover mit silberner Prägung, wunderbare Mikrotypografie. Und wie kann es anders sein: im Hermann Schmidt Verlag aus Mainz erschienen. Julia Peglow sucht der Wirklichkeit auf die Schliche zu kommen, auch jenseits dieses Buches mit ihrem Blog, den ich empfehle.

Dieses digitale Leben rückwärts blickend verstehen: Darum geht es auch Hubert Burda in seinem Buch: Notizen zur digitalen Revolution 1990 – 2015. Mein Gott: Wo sind wir mal gewesen bzw. wo haben wir gestanden? Der Verleger ist ein Chronist des technologischen Wandels, führt uns tagebuchartig ins Internet, das damals noch „Communication Highway“ genannt wurde. Überhaupt die Sprache: Das neue, elektronische Zeitalter bringt Bewegung in die Welt des Menschen. Aus dem distanzierten Betrachter wird der integrierte, interaktive Teilnehmer. Der alte Begriff „Beobachter“ gilt nicht mehr. Anstelle des Beobachters tritt der „Teilnehmer“, wenn wir die moderne Kommunikationswelt beschreiben wollen. (1994) Interessant, wie er hier schon das Community-Building und Social Media beschreibt und vorhersieht, wobei er sich eigentlich gerade im Übergang von Vor-digital zu Web1 befindet. Die zurzeit stattfindende Diskussion um den Übergang in das Metaverse und Web3 erinnert mich an die Übergangszeit, über die Burda Mitte der 90er schreibt. Rückwärts verstehen. Und den Unterschied macht er auch sichtbar: “Früher: Zeitungen und Bücher = Papier, Platten = Schellack, Filme = Celluloid, Fotos = Silbernitrat. Heute: Mozarts „Kleine Nachtmusik“, Röntgenbilder, Staatshaushalte: Ob auf einer CD-ROM oder online; alles geschieht jetzt über Bits, und es kommt zu einer nahezu unbegrenzten Speicherfähigkeit. (1995).“   Ich habe sie damals geliebt, meine MS Encarta-CD und mir abends ein Bier aufgemacht, staunend hineingeschaut und gehört.

Mein letzter Lesetipp: Judith Holofernes, Die Träume anderer Leute. Yup: die Sängerin von „Wir sind Helden“ ist das und sie beschreibt, wie das Leben weitergeht, wenn man nicht mehr Rockstar ist und seine Karriere in frühen Jahren beendet oder zumindest mal auf on hold  gesetzt hat. Erst mal vorneweg: Kreative Sprache, ein Leckerbissen, mit viel Humor geschrieben, den man auch braucht, um die todtraurige Geschichte zu lesen. Wer sein Leben verändern will, sollte sich nicht wundern, wenn er es erst mal wieder so versucht, wie er es gelernt hat. Das führt dann nicht zur gewünschten Planänderung, zum n+1, zur Veränderung 2. Ordnung. Nein, Frau Holofernes wiederholt in Variation ihr altes dysfunktionales Verhalten solange bis ihre Stimme bricht, der Körper die Notbremse zieht und ihr zu verstehen gibt: Hör mal auf, die Träume anderer Leute zu bedienen und kümmere dich um dich selbst. Als sie das endlich umzusetzen schafft, ist Patreon für sie die Lösung, mit der sie es wieder zum richtigen Verhältnis zurück schafft: 80% Kreativität und 20% Organisation. Ein versöhnlicher Ausblick dank Web3.

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