Authentisch sein ist das Gebot der Stunde. Wer bist du wirklich und ja: Welche Schwächen hast du, vielleicht sogar: Woran oder worunter leidest du? Für Bewerbungssituationen gilt das beispielsweise: Zeig uns etwas von deiner Persönlichkeit, so dass wir uns ein besseres Bild machen können. Häufig sind das Berichte über Hobbies, Leidenschaften, Sport, Engagement in der Freizeit.
Eine neue Ebene erreicht das auf Instagram und LinkedIN durch den offenen Umgang mit sehr ernsten persönlichen Problemen. Kurt ist schwerer Alkoholiker, Torsten leidet unter Depressionen, Lea-Sophie hat lange nur funktioniert bis zum totalen Burnout… In den prominenteren Fällen wird das persönliche Leiden zu einem Buch verarbeitet (und vermarktet), in vielen anderen Schicksalen reicht es zumindest für Likes und Follower auf den sozialen Medien. Der Anspruch dahinter: Eigentlich würde ich so eine schmerzliche Erfahrung ja nicht öffentlich teilen, aber um euch die Chance zu geben, aus meinen Fehlern zu lernen…
Manche dieser Beiträge lassen tief blicken, andere bewegen sich zwischen Clickbait und Kommerzialisierung. Was also heißt authentisch, wo liegt die Grenze zwischen privat und persönlich?
Wir erleben zurzeit in der Arbeitswelt einen Drift ins Informelle: Die steifen Krawatten wurden auf oberster Ebene abgeschafft, das „Du“ hielt Einzug auch in der externen Kommunikation, wir sind social und zeigen auf den Kanälen auch Bilder aus dem Inneren unseres Unternehmens, die früher jede Abteilung für Unternehmenskommunikation unter Verschluss gehalten hätte. Darin kommt der Wunsch zum Ausdruck, anders zu arbeiten, vielleicht auch das Berufliche, das so viel Zeit schluckt, mit dem Privaten zu verschmelzen, um Sinn und Erfüllung zu finden. Die Grenzen zwischen den Sphären werden immer durchlässiger, das pandemiebedingte Homeoffice hat sicherlich ein Übriges getan.
Beruf und privat stellen jedoch völlig unterschiedliche Handlungslogiken dar: Beruflich geht es primär um Ziele, Ergebnisse und Gewinn, im Privaten geht es um Beziehungen, Liebe, Familie, Anerkennung durch Sein, unabhängig von Leistung. Auch wenn der Wunsch nach New Work verständlich ist, sollte man sich der eingeschränkten Verbindlichkeit beider Systeme bewusst sein. Es besteht die Gefahr, dass der Anstrich des Privaten genutzt wird, um Interessen zu kaschieren und durchzusetzen. Der Wunsch nach Nähe wird instrumentalisiert, gezeigte Schwächen wirken sich auf die Laufbahn aus, nicht auf die erwünschte Empathie. Die Grenze zwischen privat und persönlich bestimmt jedeR selbst. Sich zu zeigen, Facetten seiner Persönlichkeit zu teilen, hilft, an Profil zu gewinnen, griffiger, be-greifbar zu werden. Mehr als nur glatt polierte Oberfläche zu bieten, ist wünschenswert und schafft Ankermöglichkeiten für einen tieferen Beziehungsaufbau. Aber ich mache das nicht pauschal und naiv, sondern wohlüberlegt. Dabei bin ich mir der Grenze zwischen den beiden Systemen bewusst und überfordere die jeweilige andere Seite nicht mit Ansprüchen aus der anderen Logik. Selbstschutz geht vor Entgrenzung.