Können wir noch ein bisschen Zeit sparen? Bitte keine Details, nur die Fakten, die ich wirklich wissen muss. Die BILD-Zeitung war schon immer was für Überschriftenleser, heute haben wir Twitter. Muss ich das ganze Buch lesen? Nein: getabstract. Muss ich mir jetzt diese Powerpoint anschauen: Kannst du das nicht kurz mit deinen eigenen Worten zusammenfassen? Zuhause den Film schaue ich auf dem Sofa, in der Hand noch einen Second Screen. Mir reichen die Schlagzeilen beim SPIEGEL. Oder nur die Bilder bei Insta.

Wir befinden uns im Durchlauferhitzer der Evolution: Unsere Informationsverarbeitung wird umgebaut und an den information overload angepasst. Es ist ja nicht nur die exponentielle Vervielfältigung von Informationen durch das Internet, sondern auch die leichtere Zugänglichkeit durch Smartphones, die uns abverlangt, uns an diese überfordernde Informationswelt anzupassen.

Mit welchen Strategien wollen wir dieser Informationsüberlastung begegnen? Gerne mit einer Verschiebung des Wahrnehmungskanals: Video killed the radio star, Podcasts sind angenehmer (parallel zu anderen Tätigkeiten) zu hören als alles zu lesen, Bewegtbild ersetzt Text. Youtube hat Google bereits als Suche abgehängt bei jüngeren Usern. Das ist ein herrlicher Selbstbetrug: Als ob die Situation besser wird, wenn wir uns über Bilder informieren. Bei Youtube werden in jeder Minute 500 Stunden neue Videos hochgeladen, also pro Tag dann 720.000 Stunden. Kleiner Geheimtipp: Der Trend geht zum third screen.

Eine weitere beliebte Strategie ist die Vereinfachung: einfach mal machen. Von Design Thinking bis hin zu agiler Projektkultur: alles wird beschleunigt, in Sprints gepackt und was man nicht verstanden oder bedacht hat, wird erst mal im Backlog geparkt. Das Primat des Machens vor dem Denken ist eine beliebte Copingstrategie von Überforderten. Erfolg ist nicht unbedingt garantiert.

Die Sehnsucht nach dem „in Ruhe mal nachdenken“ bleibt bestehen. Ganz erfolgreich hat die Süddeutsche Zeitung ihre Longreads in einem eigenen Magazin gebündelt: SZ Langstrecke. An amerikanischen Schulen werden inzwischen Kurse für deep reading angeboten. In erster Linie wird damit die Fähigkeit trainiert, nötige Aufmerksamkeitsspannen für das Lesen längerer Texte aufzubringen, um die Informationen zu verarbeiten und Ableitungen, Transfers leisten zu können. In einem meiner Lieblingslieder singt Ulla Meinecke: Schlendern ist Luxus. Denken auch. Gönn dir!

Kommentar zu “Schnipseljournalismus

  1. Andreas Essing reply

    Hallo Hermann,

    vielen Dank für die Inspiration mit diesem Text. Es wird Zeit, dass unsere Aufmerksamkeitsspanne wieder deutlich größer als die eines Goldfisches wird. Achja & dann noch Alles Gute zum Geburtstag

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