Seit kurzem lerne ich wieder Französisch, zusammen mit meiner Frau. Am liebsten in einem Café mit einem Muttersprachler über Gott und die Welt reden und so ins Sprechen kommen… Dann reifte aber auch die Selbsterkenntnis: Wir stehen seeehhhrrr am Anfang, vielleicht sind zunächst ein paar Grundkenntnisse und Vokabeln hilfreich, bevor man gleich in den Diskurs startet. Also Plan B und zurück zur altbewährten App „Babbel“. Trotzdem wollte ich mit jemandem das Sprechen üben.

Nachdem ich schon einiges dieses Jahr mit ChatGPT gemacht habe, war mein Gedanke: Es müsste doch eine App geben, die auf ChatGPT basiert und mit der ich auf Französisch reden kann. Gibt es: app.TalkPal.ai. Sofort fing ich an, mit „ihr“ zu sprechen (sie heißt „Emma“). Und so kam ich wie gewünscht mit ihr ins Gespräch über Paris, das wir demnächst besuchen wollen.

Als ich mich fragte, warum ich auf diese Art und Weise gerne lerne, wurde mir klar: Es liegt daran, dass mein Gegenüber nur eine leidenschaftslose, geduldige Blechbüchse ist und ich mich nicht schämen muss, wenn ich Fehler mache. Hier kann ich einfach fehlerbelastet sprechen, ohne Sorge vor einem Lächeln oder einer hochschnellenden Augenbraue haben zu müssen. Wenn man mich vorher dazu befragt hätte, wäre ich nie darauf gekommen, dass das eventuell was sein könnte, was mich bremsen oder belasten würde. Erst im Tun, im Sprechen wurde es mir bewusst, fühlte ich mich erleichtert und frei zu sprechen, wie mir der Schnabel gewachsen war. Scham, ein unterschätztes Gefühl.

In Organisationen hat Scham viele Gesichter, in manche sieht man offensichtlich, andere entziehen sich und tragen Masken. Wird jemand im Meeting coram publico getadelt oder weiß auf Nachfragen keine Antworten, dann sind dies bekannte Formen der Scham, gleichwohl nicht weniger verletzend. In manchen Spitzenorganisationen gilt auch der Grundsatz: create winners and loosers. Das öffentliche Zurschaustellen von Versagen soll der Abschreckung dienen. Zu welchem Preis? Für welche Unternehmenskultur? Scham als Gefühl entsteht zum Gegenüber, dient der sozialen Kontrolle, „hilft“ bei der Über- und Unterordnung. Scham funktioniert als soziales Gefühl.

Für den Prozess der Zivilisation hat das Schamgefühl ursprünglich eine konstitutive Funktion: Würden in Gesellschaften und Organisationen (gewalttätige) Gefühle jederzeit ungefiltert aufeinanderstoßen, würde das die Zusammenarbeit stark behindern. Serien wie Stromberg oder das Original The Office geben einen guten Eindruck davon, wie Organisationen leiden würden, wenn mann schambefreit auftreten würde. Im Laufe der Zeit hat sich dieses Gefühl aber so verfeinert, dass es häufig nur noch unter Masken und deshalb schwer erkennbar auftritt. Es ist also nicht nur nicht verschwunden, sondern auch schwerer erkennbar.

Scham lässt erstarren, Masken tragen und macht es schwierig, auf das schauen zu können, was eigentlich dahinter steht: Angst, Ärger, Frust, Wut, Verzweiflung usw. Das „Eigentliche“ wird schwer bzw. gar nicht zugänglich und Beziehungen können sich nicht weiterentwickeln. Institutionalisieren sich solche Verhältnisse, dann rutschen „formal“ und „informell“ immer weiter auseinander. Solche Status-Quo-Organisationen haben zwar ihr Gleichgewicht gefunden, sind aber von einem lebendigen Miteinander weit entfernt. Keine guten Voraussetzungen für eine offene, entwicklungsfördernde Unternehmenskultur. Kommunikation, die hier mitzieht, wird dann schnell zum Baumeister von potemkinschen Dörfern auf dem Boden wohlklingender Beschwichtigungs-Programme.

Eine angstfreie, offene, zugewandte Organisationskultur zu schaffen, ist kein leichtes Spiel, eher schon ein Wert an und für sich. Gelingen kann das nur, wenn meinE KollegeIn nicht nur Mittel zum Zweck der Zielerreichung ist, sondern mich als Mensch wirklich interessiert und ich sie/ihn auch so behandle. Keine leichte Balance in Zeiten der Arbeitsverdichtung und größeren Homeoffice-Distanzierung.

Interessante weiterführende Lesetipps:

https://versus-online-magazine.com/de/artikel/stolz-und-scham-in-organisationen/

https://www.rudlundschwarm.at/ideens/was-scham-in-organisationen-bewirkt/

https://www.fastcompany.com/3001239/3-ways-kill-your-companys-idea-stifling-shame-culture

Bild: H.I.

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